Mark Alexander Boyd, Heroides: Unterschied zwischen den Versionen

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Boyds dichterisches Werk stammt, ausgehend von den Publikationsdaten, aus seiner Zeit als Lehrer in Bordeaux, und beschäftigt sich ganz wesentlich mit Ovids Heroides als Vorbild und Rohstoff. 1590 veröffentlichte er die Epistolae quindecim, quibus totidem Ovidii respondet, Antworten auf die 15 Einzelbriefe in Ovids erstem Heroides-Buch. Mit dem heute nur in einem Druckexemplar erhaltenen Werk war Boyd selbst unzufrieden und schlug zwei Jahre später mit den Epistolae Heroides eine etwas andere Richtung ein: Statt zu imitieren und zu ergänzen, schuf er neue Heroides-Klagen verlassener oder unglücklicher liebender Frauen, überwiegend mythologischer Herkunft (z.B. Atalanta an Meleager, Lavinia an Turnus, Thisbe an Pyramus), teilweise aber auch historischer Figuren (z.B. Sophonisba an Massinissa, Octavia an Marcus Antonius); Antworten hat Boyd zu diesen Heroides keine verfasst. Die Briefe decken ein breites Spektrum erwartbarer (Liebeskummer wegen Trennung, Vorwürfe wegen des Verlassenwerdens), teils aber auch entweder in Inhalt oder Darstellung ungewöhnlicher oder drastischer Themen ab. Dabei taucht immer wieder der Vorwurf der Tyrannei auf, der sich teilweise auch mit dem Aspekt sexueller Gewalt oder Unterdrückung verbindet. Der vorliegende Brief ist ein besonders bemerkenswertes Zeugnis davon, stellt er doch zeitlose und auch heute teils erschreckend aktuelle Fragen nach Sexualität und Fortpflanzung als Gewalt- und Machtmittel.
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Boyds dichterisches Werk stammt, ausgehend von den Publikationsdaten, aus seiner Zeit als Lehrer in Bordeaux, und beschäftigt sich ganz wesentlich mit Ovids Heroides als Vorbild und Rohstoff. 1590 veröffentlichte er die ''Epistolae quindecim, quibus totidem Ovidii respondet'', Antworten auf die 15 Einzelbriefe in Ovids erstem ''Heroides''-Buch. Mit dem heute nur in einem Druckexemplar erhaltenen Werk war Boyd selbst unzufrieden und schlug zwei Jahre später mit den Epistolae Heroides eine etwas andere Richtung ein: Statt zu imitieren und zu ergänzen, schuf er neue Heroides-Klagen verlassener oder unglücklicher liebender Frauen, überwiegend mythologischer Herkunft (z.B. Atalanta an Meleager, Lavinia an Turnus, Thisbe an Pyramus), teilweise aber auch historischer Figuren (z.B. Sophonisba an Massinissa, Octavia an Marcus Antonius); Antworten hat Boyd zu diesen ''Heroides'' keine verfasst. Die Briefe decken ein breites Spektrum erwartbarer (Liebeskummer wegen Trennung, Vorwürfe wegen des Verlassenwerdens), teils aber auch entweder in Inhalt oder Darstellung ungewöhnlicher oder drastischer Themen ab. Dabei taucht immer wieder der Vorwurf der Tyrannei auf, der sich teilweise auch mit dem Aspekt sexueller Gewalt oder Unterdrückung verbindet. Der vorliegende Brief ist ein besonders bemerkenswertes Zeugnis davon, stellt er doch zeitlose und auch heute teils erschreckend aktuelle Fragen nach Sexualität und Fortpflanzung als Gewalt- und Machtmittel.
  
 
===Zum Text===
 
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Rhea Silvia, die Protagonistin und fiktive Schreiberin des elegischen Briefes, findet sich an der Schnittstelle gleich zweier Formen von Unterdrückung durch zwei Männer, in deren Absichten sie eine Rolle spielen oder dieser Rolle entzogen werden soll: Einerseits hat ihr Onkel Amulius, der Usurpator des Throns von Alba Longa, sie zur Vestalin gemacht und damit ihrer sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung entzogen, da Schwangerschaft und Geburt für eine Vestalin das Todesurteil bedeuteten. Die sexuelle Unterdrückung ist für Amulius aber lediglich Werkzeug der politischen Unterdrückung, da er ein Interesse daran hat, die Erblinie seines Bruders Numitor dynastisch auszuschalten. Unvereinbar mit Amulius‘ Interessen sind die des göttlichen Akteurs Mars, der zur Verwirklichung der vom Fatum vorgesehenen Gründung Roms aus der Linie des Aeneas mit Rhea Silvia zwei Söhne zeugen muss. Auch hier ist es also (wenn auch auf der übergeordneten Ebene der teleologischen Geschichtsmythologisierung) ein ‚politisches‘ Ansinnen, für das Rhea Silvia sexueller Gewalt ausgesetzt wird: Mars verführt sie nicht, sondern vergewaltigt sie und verdammt sie mit der Schwangerschaft zugleich zum grausamen Tod durch das Begrabenwerden bei lebendigem Leibe.
 
Rhea Silvia, die Protagonistin und fiktive Schreiberin des elegischen Briefes, findet sich an der Schnittstelle gleich zweier Formen von Unterdrückung durch zwei Männer, in deren Absichten sie eine Rolle spielen oder dieser Rolle entzogen werden soll: Einerseits hat ihr Onkel Amulius, der Usurpator des Throns von Alba Longa, sie zur Vestalin gemacht und damit ihrer sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung entzogen, da Schwangerschaft und Geburt für eine Vestalin das Todesurteil bedeuteten. Die sexuelle Unterdrückung ist für Amulius aber lediglich Werkzeug der politischen Unterdrückung, da er ein Interesse daran hat, die Erblinie seines Bruders Numitor dynastisch auszuschalten. Unvereinbar mit Amulius‘ Interessen sind die des göttlichen Akteurs Mars, der zur Verwirklichung der vom Fatum vorgesehenen Gründung Roms aus der Linie des Aeneas mit Rhea Silvia zwei Söhne zeugen muss. Auch hier ist es also (wenn auch auf der übergeordneten Ebene der teleologischen Geschichtsmythologisierung) ein ‚politisches‘ Ansinnen, für das Rhea Silvia sexueller Gewalt ausgesetzt wird: Mars verführt sie nicht, sondern vergewaltigt sie und verdammt sie mit der Schwangerschaft zugleich zum grausamen Tod durch das Begrabenwerden bei lebendigem Leibe.
 
Rhea eröffnet den Brief mit einem ersten Vorwurf an Mars und der darauffolgenden Schilderungen der Symptome ihrer Schwangerschaft. Breiten Raum nimmt darauf die Darstellung des Besuchs durch die Schwester Lupina ein, die durch Beteuerungen ihrer besten Absichten und ihrer Verschwiegenheit das Vertrauen Rheas gewinnt, die sich in ihrer Zelle eingeschlossen hat und der Schwester schließlich Einlass gewährt. Die Begegnung mit Lupina ist Anlass für einen Binnennaration, dem Bericht über die Vergewaltigung Rheas durch Mars. Der epistolographische Rahmen wird durch wiederholte direkte Anreden des Gottes präsent gehalten. Sehr eindringlich sind die Schilderungen der Entfremdung von und des Ekels vor dem eigenen Körper, die die Schreiberin infolge der Vergewaltigung erlebt, möglicherweise wird sogar der Versuch, einen Abbruch der Schwangerschaft unmittelbar herbeizuführen, angedeutet. Rhea beschreibt, wie sie sich in ihre Zelle zurückgezogen habe und schließlich vom Schlaf eingeholt wird, der ihr aber keine Linderung gebracht habe: Im Traum sei ihr Mars erschienen und wie beim zuvor Erlebten erneut über sie hergefallen. Inmitten des Gewaltaktes habe er sie über die mythisch-historische Tragweite in Kenntnis gesetzt, dass nämlich Zwillingssöhne das Ergebnis der Tat sein würden. Die Zeit zur Schreibsituation wird gerafft und Rhea schildert die Belastungen der fortschreitenden Schwangerschaft bzw. die bereits einsetzenden Wehen. Der erste der Zwillinge kommt zur Welt und Rhea wird durch dessen Äußeres ein weiteres Mal an den Täter Mars erinnert – sie nimmt dies zum Anlass, den Gott anzuflehen, sich nun doch seiner Söhne und auch deren Mutter helfend anzunehmen. Schließlich, nicht wissend um die Rettung der Söhne durch die Wölfin, verzweifelt sie und fügt sich in das Schicksal der Hinrichtung beim Herannahen von Amulius‘ Liktoren.
 
Rhea eröffnet den Brief mit einem ersten Vorwurf an Mars und der darauffolgenden Schilderungen der Symptome ihrer Schwangerschaft. Breiten Raum nimmt darauf die Darstellung des Besuchs durch die Schwester Lupina ein, die durch Beteuerungen ihrer besten Absichten und ihrer Verschwiegenheit das Vertrauen Rheas gewinnt, die sich in ihrer Zelle eingeschlossen hat und der Schwester schließlich Einlass gewährt. Die Begegnung mit Lupina ist Anlass für einen Binnennaration, dem Bericht über die Vergewaltigung Rheas durch Mars. Der epistolographische Rahmen wird durch wiederholte direkte Anreden des Gottes präsent gehalten. Sehr eindringlich sind die Schilderungen der Entfremdung von und des Ekels vor dem eigenen Körper, die die Schreiberin infolge der Vergewaltigung erlebt, möglicherweise wird sogar der Versuch, einen Abbruch der Schwangerschaft unmittelbar herbeizuführen, angedeutet. Rhea beschreibt, wie sie sich in ihre Zelle zurückgezogen habe und schließlich vom Schlaf eingeholt wird, der ihr aber keine Linderung gebracht habe: Im Traum sei ihr Mars erschienen und wie beim zuvor Erlebten erneut über sie hergefallen. Inmitten des Gewaltaktes habe er sie über die mythisch-historische Tragweite in Kenntnis gesetzt, dass nämlich Zwillingssöhne das Ergebnis der Tat sein würden. Die Zeit zur Schreibsituation wird gerafft und Rhea schildert die Belastungen der fortschreitenden Schwangerschaft bzw. die bereits einsetzenden Wehen. Der erste der Zwillinge kommt zur Welt und Rhea wird durch dessen Äußeres ein weiteres Mal an den Täter Mars erinnert – sie nimmt dies zum Anlass, den Gott anzuflehen, sich nun doch seiner Söhne und auch deren Mutter helfend anzunehmen. Schließlich, nicht wissend um die Rettung der Söhne durch die Wölfin, verzweifelt sie und fügt sich in das Schicksal der Hinrichtung beim Herannahen von Amulius‘ Liktoren.
An antiken Zeugnissen und Quellen für Boyds elegischen Brief ist natürlich unmittelbar an Livius zu denken, der in Ab urbe condita 1,4,2 relativ knapp die Begebenheit schildert, die Details der Hinrichtung nach der Inhaftierung aber nicht weiter ausführt. Ennius hatte in einem der längsten erhaltenen Fragmente die Vergewaltigung durch Mars bereits im Detail geschildert und auch einen Traum erwähnt, in dem Rhea/Ilia mit einem Gefühl sexueller Stimulation von ihrer Begegnung mit Mars träumt. Auch Ovid berichtet in zwei seiner Werke von Rhea Silvia bzw. Ilia: In den Amores (3,6) begeht das Opfer Selbstmord durch einen Sprung in den Fluss Anio und in den Fasti (3,9-25) wird die Vergewaltigung als solche, als eben nicht einvernehmlicher Akt, geschildert. Boyd wird jedoch sicher auch auf Giovanni Boccaccio (De claris mulieribus) oder spätere Mythographen zurückgegriffen haben, wo die Art der Hinrichtung der Darstellung in Boyds Argumentum entspricht (im eigentlichen Brief spezifiziert Rhea das ihr drohende grausame Schicksal ja nicht näher): et ipsa viva infossa est (De claris mulieribus 45).
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An antiken Zeugnissen und Quellen für Boyds elegischen Brief ist natürlich unmittelbar an Livius zu denken, der in ''Ab urbe condita'' 1,4,2 relativ knapp die Begebenheit schildert, die Details der Hinrichtung nach der Inhaftierung aber nicht weiter ausführt. Ennius hatte in einem der längsten erhaltenen Fragmente die Vergewaltigung durch Mars bereits im Detail geschildert und auch einen Traum erwähnt, in dem Rhea/Ilia mit einem Gefühl sexueller Stimulation von ihrer Begegnung mit Mars träumt. Auch Ovid berichtet in zwei seiner Werke von Rhea Silvia bzw. Ilia: In den ''Amores'' (3,6) begeht das Opfer Selbstmord durch einen Sprung in den Fluss Anio und in den ''Fasti'' (3,9-25) wird die Vergewaltigung als solche, als eben nicht einvernehmlicher Akt, geschildert. Boyd wird jedoch sicher auch auf Giovanni Boccaccio (''De claris mulieribus'') oder spätere Mythographen zurückgegriffen haben, wo die Art der Hinrichtung der Darstellung in Boyds Argumentum entspricht (im eigentlichen Brief spezifiziert Rhea das ihr drohende grausame Schicksal ja nicht näher): ''et ipsa viva infossa est'' (''De claris mulieribus'' 45).
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==Quellen- und Literaturangaben==
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M. Alexandri Bodii Epistulae heroides, et hymni, Antwerpen [La Rochelle]: Holtin 1592, 12-17 ([https://books.google.de/books?id=53dOuM2ziOkC&printsec=frontcover&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false Volltext]).
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Mark Alexander Boyd, ''Ovidius redivivus: Die Epistulae Heroides des Mark Alexander Boyd'', ed. Carolin Ritter (Noctes Neolatinae: Neo-Latin Texts and Studies 13), Hildesheim 2010.
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Edward Paleit, “Sexual and political liberty and neo-Latin poetics: the "Heroides" of Mark Alexander Boyd”, ''Renaissance Studies'' 22,3 (2008), 351-367.
  
==Literaturangaben==
 
  
 
==Download==
 
==Download==
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Aktuelle Version vom 30. Oktober 2024, 12:39 Uhr

Rhea Silvia vor ihrem Grab, Illustration aus einer Handschrift von Boccaccio, De claris mulieribus, 14. Jh., Paris: BNF, Français 12420, f. 69v.

Autor

Der schottische Dichter, Jurist und Humanist Mark Alexander Boyd hatte ein verhältnismäßig kurzes, aber bewegtes Leben von nur 38 Jahren (1563-1601). Geboren in Penkill, Ayrshire, verlor er seinen Vater schon im Kindesalter und wurde in der Folge von seinem Onkel James Boyd, dem protestantischen Erzbischof von Glasgow, erzogen. Seinem Studium in Glasgow scheint er nur widerwillig nachgekommen zu sein und wurde im Alter von 18 Jahren für ein Studium der Rechte nach Kontinentaleuropa entsandt. Zunächst studierte er in Paris, später dann in Orleans und Bourges. Vor einem Pestausbruch in Bourges floh er über Lyons nach Italien. Nach seiner Rückkehr verdingte er sich als Söldner auf der katholischen Seite Heinrichs III. in den französischen Religionskriegen. Bis 1596 unterrichtete er am renommierten College de Guienne in Bordeaux, eine Schule, die Michel de Montaigne zu ihren Ehemaligen zählte und an der andere berühmte Humanisten wie Marc-Antoine Muret oder George Buchanan unterrichteten. 1596 kehrte Boyd nach Schottland zurück, und starb in seiner Heimatregion 1601.

Werk

Boyds dichterisches Werk stammt, ausgehend von den Publikationsdaten, aus seiner Zeit als Lehrer in Bordeaux, und beschäftigt sich ganz wesentlich mit Ovids Heroides als Vorbild und Rohstoff. 1590 veröffentlichte er die Epistolae quindecim, quibus totidem Ovidii respondet, Antworten auf die 15 Einzelbriefe in Ovids erstem Heroides-Buch. Mit dem heute nur in einem Druckexemplar erhaltenen Werk war Boyd selbst unzufrieden und schlug zwei Jahre später mit den Epistolae Heroides eine etwas andere Richtung ein: Statt zu imitieren und zu ergänzen, schuf er neue Heroides-Klagen verlassener oder unglücklicher liebender Frauen, überwiegend mythologischer Herkunft (z.B. Atalanta an Meleager, Lavinia an Turnus, Thisbe an Pyramus), teilweise aber auch historischer Figuren (z.B. Sophonisba an Massinissa, Octavia an Marcus Antonius); Antworten hat Boyd zu diesen Heroides keine verfasst. Die Briefe decken ein breites Spektrum erwartbarer (Liebeskummer wegen Trennung, Vorwürfe wegen des Verlassenwerdens), teils aber auch entweder in Inhalt oder Darstellung ungewöhnlicher oder drastischer Themen ab. Dabei taucht immer wieder der Vorwurf der Tyrannei auf, der sich teilweise auch mit dem Aspekt sexueller Gewalt oder Unterdrückung verbindet. Der vorliegende Brief ist ein besonders bemerkenswertes Zeugnis davon, stellt er doch zeitlose und auch heute teils erschreckend aktuelle Fragen nach Sexualität und Fortpflanzung als Gewalt- und Machtmittel.

Zum Text

Rhea Silvia, die Protagonistin und fiktive Schreiberin des elegischen Briefes, findet sich an der Schnittstelle gleich zweier Formen von Unterdrückung durch zwei Männer, in deren Absichten sie eine Rolle spielen oder dieser Rolle entzogen werden soll: Einerseits hat ihr Onkel Amulius, der Usurpator des Throns von Alba Longa, sie zur Vestalin gemacht und damit ihrer sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung entzogen, da Schwangerschaft und Geburt für eine Vestalin das Todesurteil bedeuteten. Die sexuelle Unterdrückung ist für Amulius aber lediglich Werkzeug der politischen Unterdrückung, da er ein Interesse daran hat, die Erblinie seines Bruders Numitor dynastisch auszuschalten. Unvereinbar mit Amulius‘ Interessen sind die des göttlichen Akteurs Mars, der zur Verwirklichung der vom Fatum vorgesehenen Gründung Roms aus der Linie des Aeneas mit Rhea Silvia zwei Söhne zeugen muss. Auch hier ist es also (wenn auch auf der übergeordneten Ebene der teleologischen Geschichtsmythologisierung) ein ‚politisches‘ Ansinnen, für das Rhea Silvia sexueller Gewalt ausgesetzt wird: Mars verführt sie nicht, sondern vergewaltigt sie und verdammt sie mit der Schwangerschaft zugleich zum grausamen Tod durch das Begrabenwerden bei lebendigem Leibe. Rhea eröffnet den Brief mit einem ersten Vorwurf an Mars und der darauffolgenden Schilderungen der Symptome ihrer Schwangerschaft. Breiten Raum nimmt darauf die Darstellung des Besuchs durch die Schwester Lupina ein, die durch Beteuerungen ihrer besten Absichten und ihrer Verschwiegenheit das Vertrauen Rheas gewinnt, die sich in ihrer Zelle eingeschlossen hat und der Schwester schließlich Einlass gewährt. Die Begegnung mit Lupina ist Anlass für einen Binnennaration, dem Bericht über die Vergewaltigung Rheas durch Mars. Der epistolographische Rahmen wird durch wiederholte direkte Anreden des Gottes präsent gehalten. Sehr eindringlich sind die Schilderungen der Entfremdung von und des Ekels vor dem eigenen Körper, die die Schreiberin infolge der Vergewaltigung erlebt, möglicherweise wird sogar der Versuch, einen Abbruch der Schwangerschaft unmittelbar herbeizuführen, angedeutet. Rhea beschreibt, wie sie sich in ihre Zelle zurückgezogen habe und schließlich vom Schlaf eingeholt wird, der ihr aber keine Linderung gebracht habe: Im Traum sei ihr Mars erschienen und wie beim zuvor Erlebten erneut über sie hergefallen. Inmitten des Gewaltaktes habe er sie über die mythisch-historische Tragweite in Kenntnis gesetzt, dass nämlich Zwillingssöhne das Ergebnis der Tat sein würden. Die Zeit zur Schreibsituation wird gerafft und Rhea schildert die Belastungen der fortschreitenden Schwangerschaft bzw. die bereits einsetzenden Wehen. Der erste der Zwillinge kommt zur Welt und Rhea wird durch dessen Äußeres ein weiteres Mal an den Täter Mars erinnert – sie nimmt dies zum Anlass, den Gott anzuflehen, sich nun doch seiner Söhne und auch deren Mutter helfend anzunehmen. Schließlich, nicht wissend um die Rettung der Söhne durch die Wölfin, verzweifelt sie und fügt sich in das Schicksal der Hinrichtung beim Herannahen von Amulius‘ Liktoren. An antiken Zeugnissen und Quellen für Boyds elegischen Brief ist natürlich unmittelbar an Livius zu denken, der in Ab urbe condita 1,4,2 relativ knapp die Begebenheit schildert, die Details der Hinrichtung nach der Inhaftierung aber nicht weiter ausführt. Ennius hatte in einem der längsten erhaltenen Fragmente die Vergewaltigung durch Mars bereits im Detail geschildert und auch einen Traum erwähnt, in dem Rhea/Ilia mit einem Gefühl sexueller Stimulation von ihrer Begegnung mit Mars träumt. Auch Ovid berichtet in zwei seiner Werke von Rhea Silvia bzw. Ilia: In den Amores (3,6) begeht das Opfer Selbstmord durch einen Sprung in den Fluss Anio und in den Fasti (3,9-25) wird die Vergewaltigung als solche, als eben nicht einvernehmlicher Akt, geschildert. Boyd wird jedoch sicher auch auf Giovanni Boccaccio (De claris mulieribus) oder spätere Mythographen zurückgegriffen haben, wo die Art der Hinrichtung der Darstellung in Boyds Argumentum entspricht (im eigentlichen Brief spezifiziert Rhea das ihr drohende grausame Schicksal ja nicht näher): et ipsa viva infossa est (De claris mulieribus 45).

Quellen- und Literaturangaben

M. Alexandri Bodii Epistulae heroides, et hymni, Antwerpen [La Rochelle]: Holtin 1592, 12-17 (Volltext).

Mark Alexander Boyd, Ovidius redivivus: Die Epistulae Heroides des Mark Alexander Boyd, ed. Carolin Ritter (Noctes Neolatinae: Neo-Latin Texts and Studies 13), Hildesheim 2010.

Edward Paleit, “Sexual and political liberty and neo-Latin poetics: the "Heroides" of Mark Alexander Boyd”, Renaissance Studies 22,3 (2008), 351-367.


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