Workshop-Bericht
Workshop „Mittel- und Neulatein an Schulen!“ (26.–27.07.2021) - Bericht einer Teilnehmerin
Der Workshop beschäftigte sich über zwei Tage unter fünf Leitthemen mit der Einbindung mittel- und neulateinischer Texte in den Schulunterricht. Das Format fand online in Videokonferenzen statt und versammelte über 90 Teilnehmende aus verschiedenen Ländern (u. a. Deutschland, Österreich, Schweiz, Ukraine) und Berufsgruppen (u. a. Studierende, Fachdidaktiker*innen, Fachwissenschaftler*innen, Lehrkräfte). Ziel war es, neben einführenden Kurzvorträgen ausreichend Raum zur Diskussion im Plenum sowie im kleineren Rahmen in den Pausen zu schaffen und so einerseits das von der Universität Göttingen aus gestartete Projekt zu bewerben, andererseits Rückmeldung für die Zukunft zu erhalten, praktische Impulse für alle Beteiligten zu geben und möglichst Mitstreiter*innen an anderen Schulen und Universitäten zu finden.
Aus den einführenden Vorträgen Peter Kuhlmanns und Peter Orths, in denen eine überblickhafte Bestandsaufnahme von Mittel- und Neulatein an Schulen und Universitäten in Deutschland vorgenommen wurde, ging hervor, dass es neben Lücken im Lehrplan auch strukturelle Probleme zu bewältigen gibt – so könne man etwa nur in acht von sechzehn Bundesländern im Rahmen des Lateinstudiums überhaupt mit Texten aus Mittelalter und Früher Neuzeit in Berührung kommen, die Tendenz sei außerdem fallend. Entsprechend bedeutsam sei es, zumindest niederschwellige Möglichkeiten für interessierte Studierende und Lehrkräfte zu finden, sich trotz geringer Vorkenntnisse mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten zu beschäftigen und sie möglichst direkt in die eigene Unterrichtspraxis einzubauen. Dass es dafür diverse Anschlussmöglichkeiten gibt, sowohl in der Schule als auch an Universitäten, konnten verschiedene Vorträge an expliziten Textbeispielen zeigen.
Neben dem herkömmlichen Zugang über fertig aufbereitete Editionen und Schulausgaben kann es auch über das Fach Latein hinaus reizvoll sein, mit Originalen zu arbeiten. Matthias Bollmeyer berichtete, dass seine Führungen in Bibliotheken und der Umgang mit den materiell und medial ungewohnten Schriftträgern bei seinen Schülern viel Anklang gefunden hätten. Eine solche Exkursion etwa ins örtliche Archiv ließe sich sicherlich auch unter regionalgeschichtlichen Aspekten mit Themen aus dem Geschichtsunterricht verknüpfen und könnte somit, da sich vor Ort kaum antike Textzeugnisse finden oder begutachten lassen dürften, mittel- und neulateinischen Texten einen neuen Stellenwert an der Schule verschaffen.
Des Weiteren könne methodisch der aktive Spracherwerb des Lateinischen jenseits von Übersetzungen ins Deutsche mittels Praktiken aus der Latinitas viva allgemein die Sprachkompetenz von Schüler*innen steigern, und zwar auch (oder insbesondere) anhand von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten, so Oliver Budey. In diesem Zusammenhang seien nicht-antike Texte gerade deshalb so gut geeignet, weil ihre Verfasser Latein ursprünglich selbst als Fremdsprache gelernt hätten. Langfristig könne so das Lektürespektrum ausgeweitet und Bewusstsein für die „ganze“ Latinität erzeugt werden. Problematisch erscheint hier jedoch, dass neben dem „Außenseiterstatus“ der Texte an sich auch der der immersiven Methode bewältigt werden müsse: In der anschließenden Diskussion wurde eingeworfen, dass eine mittels Techniken der Latinitas viva ausgebildete Klasse aus Sachsen letztlich die curricularen Anforderungen weniger gut bewältigt hätte als andere. Dass in diesem Experiment mit einem modernen Lehrbuch (Familia Romana) und nicht mit mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Texten gearbeitet wurde, könnte für Kritiker der Methodik an sich jedoch unerheblich sein.
Will man es also als Lehrkraft auf dem „herkömmlichen“ Weg von Textausgaben angereichert mit Übungsaufgaben versuchen, stellt sich aufgrund der schieren Masse nachantiker lateinischer Texte die Frage, womit man anfangen soll. Zu dieser Frage gab es Beiträge aus mehreren Richtungen, sowohl für die Schule als auch für die Universität und mit Textbeiträgen sowohl aus dem Mittelalter als auch der Frühen Neuzeit.
Eine Anschlussmöglichkeit über den Geschichtsunterricht sah Mario-Marcel Wasserfuhr in seiner Einführung der von ihm aufwändig bearbeiteten Auszüge aus Einhards Vita Karoli Magni. Die Karlsvita sei darüber hinaus sprachlich gut zu bewältigen und böte curricular zahlreiche Legitimationsmöglichkeiten (etwa in Anknüpfung an antike Kaiserviten Suetons), sei sogar bereits in einigen Bundesländern in den Vorgaben der Kultusministerien berücksichtigt. In der Präsentation ausgewählten Feedbacks von Schüler*innen, mit denen Wasserfuhr sein Konzept bereits erprobt hatte, kristallisierte sich die communis opinio heraus, dass auch von Schüler*innenseite das Projekt nach Startschwierigkeiten sehr gut aufgenommen worden sei. Wasserfuhrs umfangreiches Dokument ließe sich sicherlich ohne größeren Aufwand vielfältig im Unterricht einsetzen, ein Problem könnte jedoch das von ihm verwendete nicht-gemeinfreie Bildmaterial darstellen.
Clemens Cornelius Brinkmann präsentierte wiederum zwei Texte aus dem Mittelalter, die sich problemlos mit dem Abiturthema Ovid verknüpfen ließen. Der unterschiedliche Schwierigkeitsgrad und die verschiedenen Blickwinkel auf den Dichter Ovid und die von ihm bearbeiteten Themen und Gattungen laden zu einem niederschwelligen Ausflug in mittelalterliche Texte ein, der gar nicht ohne seinen Bezug zum antiken Autor und damit zum Lehrplan auskommt. Wenn diese beiden Texte in ansatzweise ähnlicher Form wie Wasserfuhrs Bearbeitung der Karlsvita vorlägen, würden sich sicherlich viele Lehrkräfte davon angesprochen fühlen und ein solches Angebot nutzen.
Ähnlich leicht an den Lehrplan anzuschließen ist wohl Matthias Korns Vorschlag, etwa die via Google Books frei zugängliche Prosaparaphrase der Aeneis Vergils aus der Sammlung ad usum Delphini zu lesen. Aufgrund des Layouts im Druck, wo den Versen Vergils die Paraphrase gegenübergestellt wird, ließe sich möglicherweise für Fortgeschrittene auch sprachlich die Lektüre der Aeneis direkt neben dem einfacheren Prosatext erleichtern, aber auch eine Beschäftigung mit der Paraphrase allein dürfte inhaltlich lohnenswert sein. In diesem Zusammenhang bieten sich sicherlich auch Diskussionen über Antikenrezeption an.
Auf den ersten Blick weniger für die Schule geeignetes als inhaltliches Input lieferte Lars Wattenbergs Vortrag über Engelbert Kaempfer und seine Schriften über Japan aus dem 17. Jahrhundert. Er demonstrierte zunächst den direkten Regionalbezug zur Stadt Lemgo und knüpfte anschließend, ähnlich wie Lukas Reddemann, an (auch in Lehrplänen relevante) Diskussionen zur Reflexion über das Verhältnis zu fremden Kulturen an. Darüber hinaus könne man etwa die Praxis, in diesem eigentlich wissenschaftlichen Text Autoren wie Vergil als Autoritäten in die Erörterung miteinzubeziehen, mit dem heutigen Verständnis wissenschaftlicher Stichhaltigkeit vergleichen und diskutieren.
Explizit aus der Lehrpraxis an der Universität berichteten schließlich Carolin Giere und Ulrike Egelhaaf-Gaiser, die ein Seminar aus der Mittellatinistik und eines aus der Klassischen Philologie zu Seneca mittels Briefen Petrarcas in zwei Kooperations-Sitzungen verknüpften und dabei ihre Textauswahl, die Vorgehensweise sowie die Ergebnisse der Studierenden vorstellten. Dieser Vortrag konnte zeigen, wie ein Anschluss an antike Autoren sowohl an Schulen als auch an der Universität gewinnbringend für beide Fächer umgesetzt werden könnte. Darüber hinaus lässt sich insbesondere das Beispiel Petrarca für Querverweise auf die Romanistik bzw. das Fach Italienisch verwenden oder die Gattung Brief als Ausgangspunkt für Vergleiche nutzen, auch zu Ovid oder Plinius. Die „Zeitsprungsituation“ eines Adressaten in der Vergangenheit im Speziellen bietet darüber hinaus auch Anschlussmöglichkeiten zum von Clemens-Cornelius Brinkmann vorgestellten Text Baudris de Bourgueil, Florus Ovidio.
Um das vorgestellte Material zugänglich zu machen, wurde im Vorfeld der Tagung der Webauftritt „MNL macht Schule“ angelegt und beispielhaft mit Texten aus dem Bereich der Epikur-Rezeption befüllt. Die Besonderheit dieser Seite besteht in ihrer Wiki-Struktur, die es ermöglicht, über Kategorienzuweisung eben solche verschiedenartigen Querverweise zu hinterlegen und für Nutzer nachvollziehbar zu machen. Neben einer Datenbank für Texte und Aufgaben zum kostenlosen Download, Anpassung und Weiterverbreitung soll auf diesem Weg eine produktive Rezeption und letztlich auch die Möglichkeit, die Plattform selbst mit eigenen Beiträgen wachsen zu lassen, geschaffen werden. Die Vorstellung dieses Projekts stieß allgemein auf positive Resonanz; einige Teilnehmende des Workshops haben auch bereits eigenes Material dort hochgeladen. In der Diskussion wurden Wünsche geäußert, als zusätzliches Feature Texte mit Regionalbezug auf einer interaktiven Karte zu verorten sowie künftig für Latinitas viva-Einheiten auch Audio- oder Videodateien bereitstellen zu können. In diesem Zusammenhang muss jedoch nochmals evaluiert werden, wie gewährleistet werden kann, dass in von externen Nutzern hochgeladenem Material etwa keine nicht-gemeinfreien Bilder eingebunden werden. Zusätzlich muss dringend über die Lizenzierung der Texte nachgedacht werden: Einige creative commons-Lizenzen lassen etwa eine kommerzielle Weitervermarktung zu, andere nicht.
Insgesamt konnte der Workshop trotz anfänglicher Bedenken sicherlich vom virtuellen Format profitieren, was eine wesentlich höhere Teilnehmerzahl ermöglichte, als live und vor Ort umsetzbar gewesen wäre. Besonders der Vortrag Isabella Walser-Bürglers zeigte, dass die Integration mittel- und neulateinischer Texte in den Schulunterricht kein unmögliches Ziel, sondern in Österreich längst Realität ist. Wie das auf struktureller Ebene langfristig auch in den Lehrplänen umgesetzt und im Unterricht mit den antiken Autoren passend verknüpft werden kann, wurde teilweise angerissen, muss jedoch in Zukunft detailliert weitergedacht werden, damit das Ziel des Workshops möglichst sinnvoll umgesetzt werden kann. Dazu gehört auch, was womöglich nicht mit ausreichend Nachdruck vertreten wurde, bereits an Universitäten aktiv zu werden und angehende Lehrer*innen als künftige Multiplikator*innen mit mittel- und neulateinischen Texten zu konfrontieren.
Das Input aller Teilnehmenden sowie die Online-Plattform können dazu sicherlich einen Beitrag leisten. Damit langfristig jedoch auch etwas in den Kultusministerien bewirkt werden kann und der Webauftritt für Lehrer*innen attraktiv wird, sollten die Aufbruchstimmung und der Enthusiasmus dieses Workshops auf Tagungen, in Email-Verteilern oder bei virtuellen „Stammtischen“ möglichst weiterverbreitet werden – es handelte sich immerhin nur um einen Initial-Workshop!