Joseph Scaliger, Epistula vom 21.2.1597 - Heimweh in der Fremde?
Autor und Werk
Schon aus der Antike kennen wir mit Ovid einen prominenten Autor, der seine Heimat Rom verlassen musste. Im Exil in der Stadt Tomis am Schwarzen Meer verbrachte er seine letzten Lebensjahre in einer für ihn fremden Lebensumgebung. Heimweh und neue Erfahrungen verarbeitete er in seinen Elegien, den Tristia (Klagelieder) und den Epistulae ex ponto (Briefe vom Schwarzen Meer). Im 16. Jh. entstanden noch weit mehr Texte von Autoren, die von ihren Eindrücken und Erfahrungen an für sie ganz neuen Orten berichten. Einerseits gehören hierzu die Reiseberichte von Eroberern, Forschern und Missionaren aus Nord- und Südamerika, aber auch verschiedenen Ländern Asiens, wo sie eine neue, oft exotisch erscheinende Welt erlebten. Andererseits gibt es auch zahlreiche Zeugnisse von Autoren, die viel kürzere Wege gereist waren und sich doch in für sie ganz unbekannten Umgebungen wiederfanden. Die zahlreichen politischen und religiösen Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts zwangen viele Menschen auch innerhalb Europas, ihre Heimat zu verlassen und sich an neuen Orten niederzulassen.
Ein Beispiel für einen solchen Lebensweg ist die Biographie des Franzosen Joseph Justus Scaliger (1540-1609), eines der berühmtesten Gelehrten des 16. Jh. Scaliger stammte aus Agen in Südfrankreich, ging in Bordeaux zur Schule und studierte in Paris. Er war ein Meister in der lateinischen und griechischen Sprache und beherrschte darüber hinaus das Hebräische und Arabische. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften zu antiken Autoren, zur Geschichtswissenschaft und zur Chronologie. Nach einigen Reisen hielt er sich an verschiedenen Orten in Frankreich auf. Die zunehmenden politischen Spannungen in Frankreich sowie Konflikte zwischen katholischer und protestantischer Bevölkerung führte seit den 1560er Jahren zu Bürgerkriegen. Nach der blutigen Ermordung zahlreicher französischer Protestanten, den sog. „Hugenotten“, in Paris 1572 („Bartholomäusnacht“) floh Scaliger wie viele andere Protestanten nach Genf in der Schweiz. Er kehrte zwar 1574 wieder nach Frankreich zurück, konnte sich jedoch durch die Gefahren des Krieges nie länger an einem Ort aufhalten. Als er bereits zu einem der bekanntesten Gelehrten seiner Zeit geworden war, wurde er schließlich 1593 Professor an der berühmten Universität in Leiden in den Niederlanden. Scaliger schrieb während seines gesamten Lebens eine ungeheure Zahl an Briefen mit Persönlichkeiten aus ganz Europa, die für uns eine interessante Quelle über seine Lebensumstände sind. Aus seiner umfangreichen Korrespondenz wissen wir auch, dass er sich vor allem während seiner ersten Zeit in Leiden durchaus fremd vorkam. Oft schrieb er Freunden über die Eigenheiten der Niederlande und ihrer Einwohner und verglich seine Lebenssituation mit der vorangegangenen in Frankreich.
Joseph Justus Scaliger war Sohn des italienischen Humanisten Julius Caesar Scaliger (Giulio Cesare Scaligero, 1484-1558), der seine genealogische Herkunft auf die della Scala zurückführte, die im 13. und 14. Jh. Herren von Verona waren. Julius Caesar Scaliger veröffentlicht selbst zahlreiche Schriften, darunter Gedichte und philologische Kommentare. Eines der wirkmächtigsten Werke sind seine Poetices libri septem, die erst postum 1561 erscheinen. Joseph Justus Scaliger wurde als zehntes von insgesamt 15 Kindern geboren.
Während seiner Studienzeit in Paris wird Scaliger 1562 Protestant, genauer: Calvinist. Ebenfalls während seiner Studienzeit machte er die Bekanntschaft des Adligen Louis Chastaigner de la Roche-Posay, den er 1565/6 nach Italien und anschließend nach England und Schottland begleitete. In den Jahren 1567-1570 nahm Scaliger selbst am zweiten und dritten Hugenottenkrieg teil, ging aber 1570 schließlich nach Valence, um beim berühmten Jacques Cujas (1522-1590) Jurisprudenz zu studieren. Als er von den blutigen Geschehnissen in Paris während der „Bartholomäusnacht“ erfuhr, hielt Scaliger sich gerade in Straßburg auf, von wo er dann nach Genf aufbrach. Hier wurde er Professor für Philosophie und veröffentlichte mehrere philologische Werke, u.a. eine Edition der Appendix Vergiliana. Nachdem er 1574 nach Frankreich zurückgekehrt war, verbrachte er seine Zeit in den Häusern Chastaigners und anderer Freunde, konnte sich so weiteren philologischen Studien widmen. Insbesondere sind hier seine Ausgabe von Catull, Tibull und Properz (1577), die Maniliusausgabe (1579), De emendatione temporum (1583) zur Chronologie zu nennen. Nachdem Justus Lipsius 1590 die Universität in Leiden verlassen und sich wieder dem Katholizismus zugewandt hatte, war man gewillt, einen Nachfolger von möglichst internationalem Rang in die nördlichen Niederlande zu holen. Die während der Zeit des niederländischen Aufstands 1575 gegründete Universität arbeitete noch am Aufbau und der Erweiterung ihres Renommees. 1591 trat die Universität mit Scaliger in Kontakt, erst 1593 schließlich konnte sie ihn bewegen, nach Leiden zu kommen. Wie sehr man sich in Leiden um Scaliger bemühte, zeigt sich darin, dass er sogar von sämtlichen Lehraufgaben befreit war. Seinem anfänglichen Befremden gegenüber den Lebensgewohnten und der akademischen Kultur in Leiden verleiht Scaliger dann in zahlreichen Briefen Ausdruck.
Größere Aufmerksamkeit zog schließlich die Auseinandersetzung zwischen Scaliger und dem Jesuitenorden auf sich, die sich etwa von 1601 bis 1607 erstreckte. Nachdem Angriffe auf Scaligers wissenschaftliches Werk von jesuitischer Seite unfruchtbar blieben, griff man zurück auf die Herkunft der Familie und widerlegte die Verwandtschaft zu den Veroneser della Scala. Wichtigstes Dokument hierfür ist der Scaliger hypobolimaeus, den der Deutsche Caspar Schoppe 1607 veröffentlichte.
Besonderheiten
Scaliger korrespondierte in Briefen mit unzähligen gelehrten Freunden seiner Zeit. Die monumentale Korrespondenz füllt acht Bände einer 2012 erschienenen Edition von Paul Botley und Dirk van Miert. Scaligers Briefe waren bis auf wenige Ausnahmen nicht für die Publikation bestimmt und eröffnen damit vielfach Einblicke in persönlichere Perspektiven. Die Themen der Briefe sind daher ebenso vielfältig. Einen großen Raum nimmt freilich der gelehrte Austausch mit Kollegen ein, doch wir finden auch zahlreiche Einsichten in Angelegenheiten des täglichen Lebens, wie etwa Klagen über Krankheiten, Glückwünsche, Empfehlungen, oder Zu- oder Absagen zu verschiedenen Einladungen. Etwa zwei Drittel des Briefkorpus ist im Lateinischen, der Rest im Französischen verfasst.
Die Korrespondenz mit dem Philologen Isaac Casaubon ist nahezu vollständig erhalten. Die insgesamt 254 Briefe zwischen diesen beiden Gelehrten sind damit die häufigsten innerhalb des Korpus. Ihr Austausch begann 1594, also kurz nach Scaligers Ankunft in Leiden. Bemerkenswert ist, dass beide Männer sich nie persönlich begegnet sind. Ihre Korrespondenz ist damit auch ein aufschlussreiches Zeugnis für die Bedeutung des Briefs als Kommunikationsmedium der Frühen Neuzeit.